Im Februar 1984, nur zehn Minuten nachdem ich erfolgreich mein Kapitänspatent in der Tasche hatte, machte ich einen kurzen Abstecher über die 'Wiese', den kleinen Bach in der Nähe, und marschierte direkt zum Hauptsitz der SRN (Schweizerische Reederei & Neptun AG) – meinem Arbeitgeber und Lehrbetrieb, an dem ich meine Lehre absolviert hatte. Dort tat ich, was ich schon lange vorhatte: Ich kündigte.
Einen guten Monat später, ein Donnerstag, stand ich vor der Haustür meines Elternhauses in Klosters, noch vor dem Mittag angebrochen war. Ich hatten den Zug aus Triest um 22:00 oder später nach Basel genommen, wie immer hatte ich den Nachtzug mit Liegewagen genommen. Die Reise in einem Liegewagen kam mir immer vor wie in einer Zeit Maschine und ich genoss diese Art von reisen. Vom Einsteigen und vor allem dem Aussteigen an einem weit entfernten Ort., die mir stets das Gefühl von Freiheit und Entschlossenheit vermittelte. Bei meine letzte solche Reise war mir bewusst dass es wohl auf lange Zeit die letzte Reise in einem Liegewagen war.
Doch anstatt innezuhalten und ein paar Tage zu Hause zu geniessen, ging es für mich schon am nächsten Tag weiter: Am folgenden Freitag morgen, nahm ich den frühesten Zug nach Zürich. Noch vor dem Mittag hatte ich ein Zimmer gefunden, und keine zwei Stunden später, kurz nach 14:00 Uhr, schon einen Job als Hilfsarbeiter in einem Aluminium-Fräse-Werk.
So unkompliziert war das Leben damals, im Jahr 1984. Die harten Winde der Thatcher-Ära hatten Zürich noch nicht erreicht, und die Welt schien voller Möglichkeiten – für jeden, der bereit war, sie zu ergreifen.
Mein nächster Schritt war klar: Ich brauchte einen flexibleren Job, als es die Arbeit als Hilfsarbeiter bieten konnte.
Also nahm ich mir mein zuvor schon geplantes Ziel vor – die Taxiprüfung der Stadt Zürich. Im Mai 1984 hatte ich sie erfolgreich bestanden und begann bei der größten Taxigesellschaft der
Stadt zu arbeiten, die mit über 50 Taxis eine echte Größe war.
Schon damals experimentierte man bei uns mit GPS – eine Technologie, die vom amerikanischen Militär freigegeben worden war, aber noch sehr wenige Unternehmen nutzten. Die Genauigkeit ließ mit einem Fehlerbereich von etwa 1,5 Kilometern noch zu wünschen übrig, aber es war ein erster Blick in die Zukunft, und wir fühlten uns wie Pioniere eines neuen Zeitalters.
Anfangs konnte ich mich zwischen Tages- und Nachtschichten entscheiden, doch schon bald wurde mir ein Alleinwagen zugewiesen. Damit war ich frei: Ich konnte arbeiten, wann immer ich wollte, und mein eigener Chef sein. Keine belastenden Pflichten, keine starren Vorgaben – nur ich, mein Taxi und die Straßen von Zürich. Diese neue Unabhängigkeit war für mich wie ein benütigter Befreiungsschlag.
Dank meines schnell wachsenden Netzwerks an sozialen Kontakten begegnete ich bald einigen Bekannten, die die Erwachsenen-Matura absolvierten. Neugierig schaute ich mir das Konzept genauer an.
Doch es wurde schnell klar: Das wäre ein steiniger Weg. Mir fehlte die Motivation, monatelang Wissen auswendig zu lernen, nur um es für Prüfungen wiederzugeben – besonders, wenn es sich um
Inhalte handelte, die ich später kaum oder gar nicht mehr brauchen würde. Genau das war eine meiner größten Kritiken am Schulsystem: das Lehren von Dingen, die in der Praxis oft nicht in dieser
Detailtiefe relevant sind und auch ein Grund war den schulischen Weg mit 16Jahren zu beenden.
Gleichzeitig wuchs mein Wunsch, mein Wissen zu erweitern und die Dinge wirklich bis zu ihrem Kern zu verstehen. Als ich entdeckte, dass ich mich an der Universität Zürich als Gasthörer in Kurse, Vorlesungen und Seminare einschreiben konnte, war mir sofort klar: Das war mein Weg ohne Matura dabei zu sein. Der Gedanke, in Richtung Forschung zu gehen, reizte mich sehr. Doch ich sah keinen gangbaren Weg dorthin – nicht zuletzt, weil ich mich selbst als wenig "sozial kompatibel" in der Gesellschaft empfand, auch wenn ich die Leidenschaft für ein Forschungsgebiet mit anderen geteilt hätte.
Also entschied ich mich, vorerst einfach dabei zu sein. Ich genoss es, Teil des Universitätslebens zu sein, auch ohne formale Voraussetzungen. Da ich kaum älter war als die meisten Studenten,
fiel ich in den Hörsälen nicht auf. Keiner der Professoren oder Gastredner bemerkte, dass ich nur ein Zuhörer ohne Matura war. Ich schrieb sogar Arbeiten und reichte sie ein – und sie wurden
bewertet. Natürlich blieb es nicht unbemerkt, als diese Arbeiten offiziell eingetragen werden sollten. Es gab Nachfragen, aber nie Beschwerden. Meine Arbeiten wurden weiterhin akzeptiert, wenn
auch manchmal weniger detailliert geprüft.
Besonders inspirierten mich die Vorlesungen von Professor Ruh am Institut für Sozialethik der Universität Zürich, die ich sieben Semester lang besuchte. Doch mein Wissensdurst ging weit darüber
hinaus: Insgesamt nahm ich an einem knappen Dutzend verschiedener Fachgebiete teil – von interdisziplinären Kollegien über einfache Vorlesungsreihen bis zu speziellen Kollegien und
Seminaren.
So führte ich über Jahre hinweg ein echtes Studentenleben – ganz ohne Abschluss und ohne offizielle Anerkennung. Doch das war für mich zweitrangig. Es war die Freiheit des Lernens, die mich erfüllte, und die Möglichkeit, meinen Horizont ohne die Zwänge eines nicht so flexiblen Systems zu erweitern.
Was ich dabei vor allem lernte, war die wissenschaftliche Arbeitsweise und ihre grundlegenden Prinzipien. Diese Fähigkeiten sollten später in meinem Leben noch mehrfach von entscheidender
Bedeutung sein.
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